Während die Band ein neues Lied anstimmte, drückte sie ihre Zigarette aus. Die Stummel in dem schwarzen Aschenbecher waren seit Stunden mehr geworden, die untersten noch wütend zerquetscht, die oberen resigniert zerdrückt. Sie würde niemanden außer ihren Zigarettenstummeln spüren lassen, wie sie sich fühlte.
Dieser Mistkerl war wieder bei ihr, da war sie sicher. In letzter Zeit erfand er nicht mal mehr irgendwelche Ausreden, blieb einfach die ganze Nacht weg und kam dann morgens irgendwann wieder, nach seinen geliebten Havannas und einem fremden Frauenparfüm stinkend…
Eben schüttelte sie eine neue Zigarette aus der fast leeren Packung, da betrat er die Bar. Ein Mann mittleren Alters, in der Kleidung eines Geschäftsmannes. Er setze seinen dunkelgrauen Hut ab und zog den Mantel der gleichen Farbe aus, um beide an der Garderobe aufzuhängen. Ihre Augen folgten ihm unablässig. Er mochte aussehen wie ein Geschäftsmann, aber seine Bewegungen in dem schwarzen Anzug – schwarze Weste, weißes Hemd, schwarze Fliege – waren die eines Jägers. Er schaute kurz herüber zur Band und ging dann zur Theke und bestellte etwas. Sie betrachtete seinen breiten Rücken und das halblange, dunkelblonde Haar, durch das er sich fuhr, bevor er das Glas entgegennahm und aus seiner Westentasche eine Packung Zigaretten nahm. Als er sich umdrehte, streifte sein Blick die dunkle Ecke, in der sie saß.
Er schloss die Tür hinter sich und betrat die Bar, die zu dieser späten Stunde nicht mehr viele Besucher aufzuweisen hatte. Er war nicht hier, um sich vollaufen zu lassen, nicht mehr; er wollte nur ein wenig Jazzmusik hören und nicht mehr nachdenken müssen. Es gab zu vieles, was ihm im Kopf herumschwirrte und dabei waren Dinge, an die er nicht denken wollte. Sein Bett würde kalt und verlassen sein, wenn er in seine Wohnung zurückkehrte, und das war es seit einigen Wochen. Unmerklich hatte er sich allmählich fast daran gewöhnt.
Während er Hut und Mantel auszog und an der Garderobe aufhängte, blickte er zu der Band herüber, die gerade inmitten eines langsamen Stücks war, und die ruhige Szene an der Theke, wo nur noch zwei Männer ins Gespräch vertieft standen, untermalten. Er liebte es, hier so spät noch hinzugehen und den Abend bei einer Zigarette und einem Glas Whisky zu beenden. Und den bestellte er auch, als er zur Theke herüberging und sich ungeduldig durch sein zu langes Haar strich, das ihm immer wieder in die Stirn fiel. Als er sich umdrehte, streifte sein Blick eine der dunklen, verrauchten Ecken, in der er zu sitzen pflegte. Und da saß sie. Eine junge Frau in einem scharlachroten, ärmellosen Kleid, deren dunkles Haar offen auf ihre weißen Schultern fiel. In ihren Händen, die in ellbogenhohen, schwarzen Handschuhen steckten, hielt sie ein Päckchen Zigaretten und eine Spitze. Ihre Augen ruhten auf ihm und verfolgten jede seiner Bewegungen. Langsam ging er auf sie zu, ihren Blick mit hochgezogenen Augenbrauen erwidernd.
Als der Mann ihren Tisch erreichte, fragte er in einer leicht rau klingenden Stimme „Darf ich mich setzen?“
Einen Moment lang rang sie damit, ihm sagen zu wollen, dass alle anderen Tische frei und sie allein sein wolle, aber wollte sie das überhaupt? Zum Teufel damit…
„Bitte“, entgegnete sie und er nahm ihr gegenüber Platz, während er sich eine Zigarette anzündete. Nun war es an ihr, die Augenbrauen zu heben.
„Möchten sie mir kein Feuer anbieten?“ fragte sie leise und ein wenig herausfordernd. Er kräuselte einen Mundwinkel, was wie ein schiefes Lächeln aussah, die Augen unverwandt auf sie gerichtet. Dann hob er ihr seine glühende Zigarette entgegen, und sie beschloss, sein Spielchen mitzuspielen. Mit einiger Befriedigung sah sie, wie sein Blick über ihr volles Dekolleté huschte, als sie sich über den Tisch beugte, um den entzündenden Zug zu nehmen. Seine Hände, die seine Zigarette hielten, waren sehr groß, gepflegt und braun gebrannt. Den Rauch tief inhalierend, lehnte sie sich wieder zurück, atmete aus und fragte dann: „Und?“
„Wie bitte?“ gab er zurück, offensichtlich in Gedanken versunken, die Augen noch immer auf sie gerichtet, auch wenn sie nicht sicher war,ob er sie wirklich sah oder durch sie hindurch.
„Sie wollten sich doch zu mir setzen. Also nehme ich an, dass sie mir auch etwas zu sagen haben.“
Er verbrachte einige weitere Sekunden damit, sie versonnen zu betrachten. Dann sagte er: „Ehrlich gesagt, hat mich ihr Blick einfach angezogen.“
Und das war nichts als die Wahrheit. Normalerweise saß er allein, in einer der dunklen Ecken, mit der Musik, seiner Zigarette und seinem Glas Whisky als einzige Begleiter… Aber warum immer alleine sein?
„Und nun möchten sie hier sitzen, Musik hören und mich ansehen?“ fragte sie, und es war eindeutig Belustigung in ihrer Stimme zu hören.
„Warum nicht?“ gab er zurück. „Warum sollte ich nicht Jazzmusik in einer Bar hören und dabei eine schöne Frau betrachten?“
Sie errötete nicht. Wahrscheinlich war sie an Komplimente gewöhnt. Aber sie lächelte, und das machte ihre Züge überraschend weicher. Ihre Augen waren von einem warmen Braun, doch das Lachen erreichte sie nicht ganz. Eine Art Traurigkeit lag in ihnen, die ein paar schmeichelnde Worte nicht vertreiben konnten.
„Dann“, sagte sie und stütze ihr Kinn auf die linke Hand, während die rechte die Spitze mit der Zigarette hielt, „werde ich ein wenig reden, während sie mich ansehen.“
Da stahl sich auch ein Lächeln auf seine Lippen und er nickte ihr aufmunternd zu.
Das Lachen veränderte sein ganzes Gesicht. Kleine Fältchen legten sich um seine dunkelblauen Augen und er tat ihr die kinnaufstützende Geste nach.
„Ich bin heute zum ersten Mal hier“, begann sie und zog noch einmal an ihrer Zigarette. „Ich war es leid, zuhause herum zu sitzen und mir verlassen vorzukommen. Also bin ich in diese Bar gegangen und kam mir hier verlassen vor.“ Der Sarkasmus in ihrer Stimme verhinderte, dass sie selbstmitleidig klang.
„Aber die Musik ist wunderschön.“ Sie bemerkte, dass er sie musterte, während er ihr zuhörte, ganz offen, kein huschender Blick wie zuvor, während die Musiker im Hintergrund ein neues, schwingendes Lied anstimmten.
„Möchten sie tanzen?“ fragte sie plötzlich und er sah ihr in die Augen, mit dem Blick des Jägers, den sie zuvor in seinen Bewegungen erkannt hatte.
„Gern“, erwiderte er nur, stand auf und ließ seine Zigarette achtlos liegen, während seine Hände seine Fliege lockerten. Die Anzugjacke legte er beiläufig auf der Stuhllehne ab. Die schwarze Weste betonte seine breiten Schultern, das weiße Hemd seine braune Haut. Als sie aufstand bemerkte sie, dass er sie ein wenig überragte, was nicht oft vorkam, da sie für eine Frau recht groß war. Er hielt ihr seine Hand entgegen und sie legte die Zigarettenspitze fort und zog sich in einer fließenden Bewegung die Handschuhe aus, um ihre bloße Hand in seine zu legen. Seine Haut war warm, der Druck seiner Hand fest.
Er schloss seine Finger um ihre kühle Hand und führte sie in die Mitte der leeren Bar. Das rote Kleid war aus fließendem Chiffon gefertigt, das sich schmeichelnd um ihre Kurven legte. Der Schnitt ließ einen großen Teil ihres Rückens frei und zeigte durch einen hohen Schlitz an der rechten Seite gerade soviel von ihrem Bein, um die Phantasie anzuregen.
Auf der Tanzfläche angekommen, drehte er sie mit einem Schwung zu sich, fasste ihre rechte Hand mit seiner Linken und legte die andere Hand leicht auf ihren Rücken, spürte ihre weiche Haut unter seinen Fingern. Sie sahen sich in die Augen, während er sie im Takt der Musik zu wiegen begann. Ihr schönes Gesicht war ernst, ihr Blick war forschend, fast fragend, als ob sie ergründen wolle, warum er sie in dieser Nacht, zu dieser späten Stunde, so im Arm hielt. Er war sicher, die Antwort stand in seinen Augen.
Sein Griff war bestimmt, er führte sie mit Nachdruck und verstärkte bei den kleinen Drehungen den Druck seiner Rechten an ihrem Rücken. Sie konnte den Blick kaum von seinen Augen lösen. Der hungrige Ausdruck darin fesselte sie und ließ gleichzeitig so viele Fragen entstehen, die sie gar nicht fragen und erst recht nicht beantwortet haben wollte.
Nein, sie würde nicht fragen, ob er Absichten hegte, ob er bald gehen müsse und wohin, oder ob er sie noch ein wenig fester halten könne. Und sie würde ihm auch nicht sagen, dass sie sich in diesem Moment nicht mehr verlassen vorkam. Sie würde einfach weiter mit ihm tanzen, seinen Körper an ihrem spüren und versuchen, gar nicht mehr zu denken. Nicht an die Einsamkeit, die sie an dem Ort erwartete, den sie in Gedanken nur noch widerwillig „zuhause“ nannte, nicht an ihren Schmerz und die Angst, nicht vollkommen genug zu sein für die Liebe… Nein. An nichts außer ihn.
Plötzlich schloss sie die Augen und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Diese vertrauliche Geste überraschte ihn zunächst, doch dann zog er sie noch näher an sich und vergrub sein Gesicht in ihrem duftenden Haar. Ihr wunderbar weicher Körper war seinem ganz nah, und die Wärme, die sie ausstrahlte, schloss ihn ein. Er streichelte mit seinem Daumen ganz leicht über ihre Finger, während er die andere Hand durch ihr Haar gleiten ließ und sie schließlich an ihr Gesicht legte. Als sie nach einiger Zeit, in der sie sich einfach hin und her gewiegt hatten, ganz in die Nähe des anderen gehüllt, wieder zu ihm aufsah, war der traurige Ausdruck ihrer Augen einer Sanftheit gewichen, die ihn anders berührte als ihr geschmeidiger Körper in dem sündigen Kleid. Er lächelte sie an und sie erwiderte das Lächeln, reckte ihm das Gesicht entgegen und legte ihre weichen Lippen zärtlich auf seinen Mund. Er schloss die Augen und spürte nur noch sie, alles andere war vergessen, sein leeres Bett, die letzten Wochen, in die sich allmählich Gleichgültigkeit und Kälte geschlichen hatten… Alles. Es gab nur noch sie.
Als die Musiker das letzte Lied gespielt hatten und der Barmann die Tische abräumte und die Stühle hochstellte, hielt er in einer dunklen Ecke inne. Auf dem Tisch stand ein voller Aschenbecher, in dem eine vergessene Zigarettenspitze lag. Der Barmann nahm sie an sich und räumte dann kopfschüttelnd das fast volle Glas Whisky fort. Als er schließlich das Licht ausschaltete, lagen über seinem Arm eine Anzugjacke und Paar langer, schwarzer Handschuhe.